Werkeinführung
Ricercare und Choral für Flöte, Englischhorn, Fagott, Violine, Viola und Violoncello
Das Werk entstand im Jahr 2000 für das Rheinische Bachcollegium Stuttgardt. Die UA fand im gleichen Jahr Leipzig statt, da der Auftraggeber der Sächsische Musikbund war.
Analytische Betrachtung
Der Bezug des Werkes auf das Bachjubiläum in besonderer Ausrichtung auf das 6-stimmige Ricercare aus dem "Musikalischen Opfer" von J. S. Bach ist durch die damalige Programmkonzeption
zu erklären. Das Werk besteht aus zwei Sätzen. Im ersten, zweigliedrigen Satz werden die beiden Elemente des "königlichen Themas" einzeln in einer zeitgenössischen Umformung durchgeführt, wie
die folgende Abbildung veranschaulicht.
Der zweite Satz ist eine freie Anlehung an die Körperlichkeit eines Choralsatzes. Ableitungen können sich aus beiliegender Grafik ergeben.
Ästhetische Betrachtung
Die große Unsicherheit wird durch eine unreflektierte Sicht auf unsere kulturelle Vergangenheit freigesetzt. Vielleicht hat das Europa-Phantom und andere politischen/ökonomischen
Zwangsmaßnahmen im 20. Jahrhundert zu jenem Vakuum geführt, dass uns im verkrampften Geradeausblick auf Wurzelsicht tröstet. Nur hat die Wurzel die Angewohnheit, zumindest botanisch,
sich der Veränderung des aus ihr entspringenden Sprosses anzupassen. Würde sie dies nicht tun, erschlüge sie ihre eigene Kreation. Ich möchte an dieser Stelle nicht die Konsequenzen erörtern,
die eine degenerative Entwicklung reziprok an den Ursprüngen verursacht. Abgesehen von dem Zerrbild in der Tröstung solcher Rückbesinnungsapolstel, die schon allein durch ihre
Weltuntergangstheorien an solchen erdgeschichtlichen Alltäglichkeiten wie Sonnenfinsternissen oder der lustigen Rundung von zwei Tausendern menschengemachter Zählkunst scheitern.
Es wird immer Götter geben; wir brauchen sie um etwas zu haben, an das nicht zu glauben uns neue Gottsichtige lehren dürfen. Welch weise Vision von der Unendlichkeit zeitgeschichtlicher Prozesse.
Wie viele Wurzeln der Humangenese wurden dadurch schon gerodet? Wer mag den Grad des Rudimentären auszumachen, dessen schemenhafte Konturen verführen, “Ursprung” zu deuten, wo nur
Veränderung ist. Falls Heraklid recht hat mit seinem untröstlichen “ALLES FLIEST”, müsste sich der Mensch von der zentrierten Rotation verabschieden, als dessen Fundament er die vermeintlich
zirkumpolaren Ursprünge zur Ankerung seiner Drehung mißbraucht.
Das 20. Jahrhundert war im Gegenzug zu den umfangreichen geistesgeschichtlichen Entwicklungen auch mit Verarmungstendenzen angereichert, so als müsse jeder Gewinn mit Verlust bezahlt
werden. Es scheint als bleibe die Summe von geschichtlichen Entwicklungsergebnissen immer gleich, als habe die biblische These von der Schwachheit des menschlichen Geistes bezogen auf die
Humangenese Ewigkeitsanspruch. Die defizitären Entwicklungen werden als Werteverlust definiert, was so leicht und verführerisch ist, dass jeder es glauben möchte, der wie auch immer geartete
Verlustempfindungen hat. Interessant vielleicht könnte die Überlegung sein, dass derartige Empfindungen ihren Wertungshintergrund immer aus Tradiertem schöpft, der Verlust also aus dem Verschwinden
von Gewohntem, Liebgewordenem empfunden wird. Ob es eventuell nicht auch so sein könnte, dass alte Werte durch neue Werte ersetzt werden, die man nicht sehen will oder kann, oder ob nicht alten
Werten einfach neue hinzugefügt werden, deren allgemeine Akzeptanz keine Garantie besitzt, bleibt die dabei diffizilste Frage. Und diese Frage wirft ein Problemfeld auf, dass gerade die Künste und
Wissenschaften berührt.
Halle, März 2000
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