Werkeinführung
Thomas Buchholz: Exclamationes per piano (1989)
Exclamationes = Aufschreie, Äußerungen in Tönen, die
für die Verletzlichkeit von Menschen stehen. Assoziationsmuster waren
dazu jene literarischen Zitate von Autoren der DDR, die den einzelnen Stücken
voraqngestellt sind:
I. "Sprich mir nicht von den Wiesen, nicht hier, wo meine Hände
stürzen, und mein Schmerz am Gemäuer emporsteigt ..."
(Diana Lorenz)
II "Wie viele Bäume wurden gefällt, wie viele Wurzeln gerodet
- in uns ..."
(Reiner Kunze)
III " ... dass mein Haus einen zweiten Ausgang hat ..."
(Bertold Brecht)
Die erste Fassung dieser Stücke entstand 1987, als ich noch Student
an der Leipziger Musikhochschule war. Es gab den Rat, die Texte vor den
Stücken weg zu lassen und so nannte ich die drei Stücke "Drei
Notturnos". Es war übrigens mein einziger Versuch, mit der Dodekaphonie
zu arbeiten. Die UA am Dresdner Zentrum für zeitgenössische Musik
im Herbst 1989 durch meinen Kollegen Olav Kröger führte schließlich
dazu, dass ich mich dann doch entschloss, die Texte anzugeben und den Allerweltstitel
durch eine aussagekräftigere Betitelung zu ersetzen. Bei der damit
verbundenen Reinschrift bemerkte ich, dass Eingriffe nötig waren und
ich änderte auch die Reihenfolge der Stücke. Die UA dieser Fassung
besorgte ich dann selbst in einem Konzerrt in Karlsruhe 1992. Seit dieser
Zeit sind die Stücke unendlich viele Male aufgeführt worden,
nicht nur in Deutschland, auch in vielen Ländern Osteuropas und den
USA. Viele bedeutende Interpreten spielten das Werk, so auch die Pianistin
Tiny Wirtz. Die östereichische Pianistin Almuth Teichert besorgte
die Einspielung für Rundfunk und CD.
Meine freche Art, die Schönbergsche Methode zu benutzen erfolgte
vollkommen unorthodox. Sogar Tonwiederholungen und freiharmonische Akkorde
lassen das akustische Bild verschwimmen. Trotz eindeutiger 3-teiliger Formgebung
überwiegt der Eindruck improvisatorischer Gesten. Letztlich auch das
Weglassen metrischer Taktgliederung zu Gunsten fließdender Lienarität
mögen dazu beigetragen haben. Es ist eine Musik entstanden, die einen
eruptiven Charakter mit Lyrismen verbindet. Es hat mich wenig interessiert,
ob das modern ist. Vielleicht ist diese Haltung beim Komponieren das, was
mich auch heute noch mit meinen früheren Werken verbindet. Angesichts
der Tatsache, dass einerseits der unaufhaltsame Drang nach Originalität
immer absurdere Varianten der Tonkunst hervorbrachte und andererseits das
breite Publikum längst mit den Füßen gegen das Neue abgestimmt
hat, bringt mich letztlich darauf, relativ ignorant mit Novitäten
umzugehen. Wichtig ist mir das, was ich mit meiner Musik sagen will. Dem
entsprechend wähle ich meine kompositorischen Mittel. Ich weiß,
dass diese Haltung nicht nur Zustimmung erzeugt. Was mich besonders berührt,
davon gehe ich aus, dass es auch andere Menschen berühren kann. Meistens
ist das auch so, nur die Kritiker meinen oft, dass sie dem Kunstwerk etwas
zu sagen hätten, viel mehr als das Kunstwerk ihnen etwas vermitteln
könnte.
Was die Exclamationes betrifft, so habe ich schon die berückende
Enge der DDR-Politik erlebt und musikalisch gemeint. Welche Überraschung,
dass sich daran nach den politischen Veränderungen so wenig verändert
hat. Kein Jahrhundert hat folgenreichere Kriege geführt. Noch in keinem
Jahrhundert war die Massenvernichtung von Menschen so perfekt wie heute
organisiert. Aber diese globalen Kathastrophen sind oft nur die Oberfläche.
Wie geht ein Land heute mit seiner geistigen Elite um? Welche Rolle spielen
die Künste im Leben der Gesellschaft? Wie wird mit Andersseienden
und Andersdenkenden umgegangen, wie mit den Schwachen, den Minderheiten
und sonstigen Außenseitern? Was habe ich gelernt nach der Wende:
Politik ist niemals zur Verwirklichung von Idealen da, sie vertritt nur
Interessen - unabhängig jeder Staatsform. Die Absurdität des
Künstlers ist vielleicht sein Konflikt mit der Macht; der Konflikt
seiner Kunst mit der Realität der Interessenlage. Was bleibt ist die
Hoffnung: "... dass mein Haus einen zweiten Ausgang hat ..."
Th.B.
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